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Die Einführung der zentralen Wasserversorgung fand in Ober- und Mittelhessen im Wesentlichen in der Zeit zwischen 1900 und 1914 statt. Sie wurde befördert und begünstigt durch das Zusammenwirken mehrerer Faktoren, die in der Zeit der "Gründerjahre" nach der Reichsgründung 1871 wirksam werden konnten. Das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich beschleunigende Bevölkerungswachstum in den Städten und auf dem Lande und die zunehmende Industralisierung und Mechanisierung stellten neue Anforderungen an die Wasserversorgung, welche die alten öffentlichen und privaten Brunnen nicht mehr leisten konnten.  

Dazu zählten Versorgungssicherheit, individuelle Verfügbarkeit, Zeitersparnis und eine wesentliche Verbesserung der hygienischen und gesundheitlichen Verhältnisse. Die zentrale Wasserversorgung trug somit wesentlich zur dynamischen Weiterentwicklung der Städte und Gemeinden um die Jahrhundertwende bei.

Es lohnt sich heute, den in vielen Ortschaften und Städten unserer Region noch vorhandenen Wasserhäusern, Hochbehältern, Wasserwerken und Wassertürmen besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, den sie sind Zeitzeuge einer bedeutenden technischen und sozialgeschichtlichen Entwicklung, die das Leben der Bevölkerung wesentlich beeinflusste und veränderte.

Die zentrale Wasserversorgung war nicht nur eine technische Neuerung. Mit deren Einführung veränderte sich auch die sozialen Beziehungen der Menschen untereinander, zuerst in den Großstädten und nachfolgend auch in den Städten und Gemeinden auf dem Lande. Bestand die Bedeutung der Brunnen für das bisherige Leben noch darin, dass das Wasser der öffentlichen Brunnen Allgemeingut war und die Tätigkeit des Wasserschöpfens von allen Bürgern je nach Bedarf gleichermaßen ausgeführt und weitgehend kostenfrei beansprucht werden konnte (Brunnengeld, Pauschalabgabe), so wurde mit der Verlegung der Wasserleitung in die privaten Haushalte aller Bürger sowahl der Vorgang des Wasserzapfens als auch die Abrechnung des Wassergeldes aus der Öffentlichkeit in die Privatsphäre hinein verlegt und somit individualisiert.

Jetzt musste jeder Haushalt einen Antrag bei der Gemeinde- bzw. Stadtverwaltung stellen, damit er seinen Wasseranschluß installieren durfte. Die verbrauchte Wassermenge wurde exakt über Wassermesser abgelesen und jeder Haushalt erhielt eine amtliche Abrechnung. Damit wurde die private Wasserentnahme der professionellen Aufsicht der kommunalen und städtischen "Wasserwerke" und der Nutzungs- und Gebührensatzung der Gemeinde- und Stadtparlamente unterstellt. Die Wassergebühren wurden jetzt von den Gemeindeparlamenten in der "Wassersatzung" festgelegt und nicht mehr wie bisher mit den Brunnengemeinschaften und Stadtvierteln ausgehandelt.

Für die Verständigung über die Art und Weise der Wasserversorgung war dieser Unterschied wesentlich. Das bisher allgemein verfügbare, weitgehend kostenlose "Gut Wasser" aus den öffentlichen Brunnen stllte für alle Bürger eine formale Gleichstellung dar. Soziale Unterschiede spielten dabei kaum eine Rolle. Demgegenüber stellte die durch Gemeindeverordnung festgeschriebene Regelung der privaten Nutzung pro Haushaltsgräße (Anzahl der Personen und Tiere) eine genaue Erfassung der Haushalte und des Bedarfes dar.

Mit dem Bau der zentralen Wasserleitung waren die bisherigen sozialen Funktionen der Brunnengenossenschaften, wie Brunnenabgabe zahlen, Brunnenfegen, die Wasserqualität kontrollieren, Wassermengen bei Versorgungsengpässen zuteilen, Brunnenfeste organisieren etc. überflüssig geworden. Die bisher vorwiegend von der Gemeinschaft geregelten und kollektiv wahrgenommenen Aufgaben der Wasserbeschaffung und deren Verteilung wurden zu einem technisch kontrollierbaren und professionell geregelten Prozess. Die darür erforderlichen Anlagen und Maschinen (Pumpen, Motoren) an den "Wasserwerken", die der Öffentlichkeit nich mehr zugänglich waren, wurden jetzt von Technikern (Wassermeistern) bedient und gewartet. Der Wassermeister musste bestimmte Qualifikationen erfüllen und erhielt für seie Tätigkeit eine geringe finanzielle Entlohnung sowie weitere Vergünstigungen, wie die Nutzung von Wiesen, Zuteilung von Holz, Schafen, Ziegen oder Nahrungsmittel.  

Die technischen Veränderungen und Professionalisierung der Wasserversorgung bedeutete für die bisher gesellschaftlich in den Orts- bzw. Stadtvierteln geregelten Verfahrensweisen der Wasserverteilung und für die zu deren Kontolle bestimmten Personen und Gemeinschaften einen Funktions- und Ansehensverlust. Damit einher ging auch die lokale Bedeutung der Brunnen als Treffpunkt für Sozialkontakte und Kommunikation verloren. Die sozialen Auswirkungen dieser technischen Veränderung betraf die ländliche Bevölkerung stärker als die städtische, die schon, zeitlich früher,  im Verlauf der Industrialisierung der Städte individualisierte arbeitsteilige Formen der beruflichen Existenzsicherung kennen gelernt und die Trennung von öffentlichem und privatem Bereich in ihre Lebensführung übernommen hatte.

Der Wegfall der Brunnenversorgung hatte zur Folge, dass auch die damit verbundenen Rituale und Begegnungen infrage gestellt wurden. Insbesondere für junge Leute wurde es damit schwierig, Verabredungen zu treffen, die bisher im öffentlichen Leben durch das allseits als notwendig anerkannte Wasserschöpfen an den Brunnen in gewisser Weise legitimiert wurde. Es bedurfte jetzt überzeugender Argumente und gezielter Verabredungen und Anlässe, wenn sich Jugendliche auf dem Lande außerhalb der sozialen Kontrolle, die an den dafür traditionell vorgesehenen Treffpunkten, wie Spinnstuben und Vereinslokalen stattfand, begegnen wollten.

Die sozialen Bedürfnisse des ungezwungenen Treffens, Verabredens und Feierns blieben aber bestehen. Somit mussten dafür neue Formen entwickelt und neue Orte gefunden werden.  Als neuer Treffpunkt bot sich das Wasserhaus an. Die Lage der neuen Wasserhäuser und Wassertürme auf einer Anhöhe am Rande der Ortskerne war hervorragend für Freizeitaktivitäten, Verabredungen und zufällige Treffen der Jugend geeignet. Kinder konnten auf dem Hügelgelände der Wasseranlage herumtollen, Fangen spielen und im Winter den Abhang des Berges, auf dem das Wasserhaus stand, bis ins Dorf hinunter Schlitten fahren. Für die Jugendlichen bestand die Attraktion des Wasserhauses vor allem darin, sich heimlich zu treffen und "verbotene"  Dinge, wie Rauchen und Knutschen zu erproben. Anderseits waren aufgrund des weiteren Weges vom Dorfkern zu den Wasserhäusern Verabredungen und Begegnungen auch schwieriger durchzuführbar als bisher, wo der Gang zum Brunnen nur "um die Ecke" war.

Die Treffen am Wasserhaus fanden freiwillig und losgelöst vom üblichen Berufs- und Sozialleben statt, welches von der Notwendigkeit der alltäglichen zweckgebundenen Tätigkeit der Lebensvorsorge bestimmt wurde. Daher war die Akzeptanz für alltägliche Treffen und Kommunikation in der Öffentlichkeit an diesem "frei zugänglichem Ort" zunächst erschwert. Das öffentliche soziale Leben rund um das Wasserhaus musste ebenfalls neu organisiert und arrangiert werden. Dazu boten sich insbesondere die weltlichen und kirchlichen Feste an. So wurden an den Wasserhäuschen und Wassertürmen Fest- und Feierplätze eingerichtet, auf denen jahreszeitliche Feiern, wie Kirchweih und Sonnenwendfeiern, abgehalten wurden.

Die exponierte Geografische Lage des Wasserhauses, bot für die örtlichen Besucher eine besonders schöne Aussicht auf "ihren Ort" und die sie umgebende Mittelgebirgslandschaft Hessens. Der von den Sorgen der Arbeitswelt befreite Blick bewirkte, dass die Bevölkerung die Lage des Wasserhauses als etwas Besonderes empfand. So ist zu erklärlich, dass man vielerorts an dieser markanten Stelle auch eigene Wasserfeste veranstaltete, die in einigen Ortschaften heute noch stattfinden bzw. wieder eingeführt wurden. Durch die neue Sinngebung und Belebung dieses öffentlichen Platzes durch Feiern und Feste kam auch die allgemeine Anerkennung zustande. In der Erinnerung vieler älterer Menschen sind diese Eindrücke lebendig geblieben.  Daher ist es verständlich, dass sie diesen Ort immer noch Wert schätzen und sich auch für den Erhalt und Ausgestaltung einsetzen.