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Die rasche landwirtschaftliche, handwerkliche und kleinindustrielle Entwicklung in den Großstädten und auf dem Lande in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts führte zu einem Anstieg des Wasserbedarfs. Der Bau neuer verkehrs- und kommunikationstechnischer Einrichtungen (Eisenbahn, Straßen) beschleunigte den Austauschprozess zwischen Stadt und Land zusätzlich. Das Entstehen von Manufakturen und kleinindustriellen Betrieben, wie Weberei, Spinnereien, Färbereien, Tuch- und Zigarrenfabriken in den ländlichen Kleinstädten und Gemeinden erforderte einen wesentlich höheren Wasserverbrauch als noch Anfang des 19. Jahrhunderts. Die mit dem Anstieg der Bevölkerung wachsenden Handwerksbetriebe (Schuhmachereien, Schlossereien), ebenso wie die zahlreichen örtlichen Brauereien, Gasthäuser und Einzelhandelsgeschäfte (Eisenwaren, Lebensmittel) benötigten zudem ständig verfügbares Brauch- und Trinkwasser. Die auf dem Lande dominierende Landwirtschaft hatte den stärksten Wasserverbrauch.

Die Verbesserungen der Lebensverhältnise, d. h. der Arbeits- und Wohnbedingungen in den rasch wachsenden Städten und Gemeinden, ab der Mitter des 19. Jahrhunderts zeigte sich vor allem im Wohnungsbau und im Lebensstil der Bürger in den Großstädten. Der gestiegene Anspruch an Wohnkomfort und Hygiene schloss eien gesicherte Versorgung mit gutem Trinkwasser, welcheszu allen Jahreszeiten ausreichend zur Verfügung stand, mit ein. Damit verbesserten sich auch die gesundheitlichen und hygienischen Lebensbedingungen deutlich. Erweiterte medizinische und hygienische Kenntnisse führten zu einer Verbesserung des Gesundheitswesens und der alltäglichen Hygiene. In den neu gegründeten Hygieneinstituten wurden Methoden zur mikrobiologischen Wasseruntersuchung durchgeführt, die zur bakteriologischen Bestimmung der Wasserqualitüt führten. Damit konnte die Erreger der Typhus- und Choleraerkrankungen im Trinkwasser gefunden und Medikamente zu deren Abwehr und Methoden zur Reinigung des Wasserers entwickelt werden. Die dadurch erzielten Verbesserungen der Wasserqualität hatten zur Folge, dass der Wasserverbrauch rasch anstieg.

Der erleichterte Zugang zum Wasser veränderte auch die Einstellung der Bevölkerung i Umgang mit dem Wasser selbst. Es entwickelte sich ein neues Bewusstsein für den täglichen Gebrauch des Wassers in Bezug auf Körperpflege und Hygiene. Das erweiterte Reinlichkeitsbedürfnis der Bevölkerung in den Städten und Gemeinden hatte Konsequenzen für die Innenausstattung der Häuser und Wohnungen, wo Bäder, Duschen, Toiletten mit Wasserspülung und Waschbecken mit fließendem Wasser eingeplant bzw. neu installiert wurden. Der neue "Komfort" wurde zunächst nur in den wohlhabenden bürgerlichen Stadtvierteln eingeführt und bewirkte eine weitere soziale Differenzierung in der Bevölkerung. Zu der Wohnlage wurde als weiteres Unterscheidungsmerkmal die Ausstattung der Häuser bzw. Wohnungen mit oder ohne sanitäre Einrichtung und Anschluss an die zentrale Wasserleitung von Bedeutung.

Für die Stadt Wiesbaden ist eine soziale Differenzierung im privaten Wasserverbrauch deutlich erkennbar, indem für die Geschäftsstraßen 52 l, für die Straße armer Leute 25 l, für den Mittelstand 30 l, für die Wohlhabenden 63 l, für die Landhäuser (der Wohlhabenden) 125 l pro Person und Tag ausgewiesen werden. In den Mietshäusern und Etagenwohnungen vor allem in den ärmeren Wohnvierteln der Großstädte um 1900 (München, Hamburg, Frankfurt/M) gab es, wenn überhaupt, nur einen Wasseranschluss pro Etage 8Zapfstelle). Dieser lag außerhalb der Wohnungen meist im Treppenhaus der Zwischenetage, ebenso wie die Etagentoiletten mit Wasserspülung. Mehrere Mietparteien mussten sich hier Wasseranschluss und Toiletten teilen.

 Auch in den hessischen Mittel- und Kleinstädten waren die meisten Mietshäuser, wenn überhaupt, nur mit Etagentoiletten und Etagendusche ausgestattet. In vielen Gebäuden gab es keine Dusche- bzw. Badeeinrichtung. Die Bevölkerung nutzte die öffentlichen Hallenbäder, die Anfang des 20. Jahrhunderts gebaut worden waren und heute zumindest teilweise wieder eine Wertschätzung erfahren. In Darmstadt wurde das 1907 erbaute Jugendstilbad renoviert und im Jahr 2008 wieder eröffnet. Das in Friedberg 1908/09 gebaute Jugendstilbad, bis 1980 genutzt, wurde von einer Bürgerinitiative vor dem Abriss bewahrt und ist seitdem als Kulturdenkmal geschützt. Es soll wird nach dem Umbau 2012 als Kulturhaus genutzt. Die Gießener Jugendstilbad wurde in den fünfziger Jahren zugunsten eines Kaufhauses abgebrochen. Das Luisabad in Marburg, ein ebenfalls historisches Gebäude, musste 1997 einem Bankgebäude weichen.